Carmelo Meo Tribute Giro, 2. – 8. Mai 2016
Sicilia - Calabria


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1. Etappe, Montag 02.05.16: Palermo Aeroporto – Cefalù

Der Giro 2016 startet im Aeroporto Falcone e Borsellino, dem Flughafen von Palermo – Punta Raisi, benannt nach den beiden Mafiajägern, die 1992 zwei Bombenattentaten zum Opfer fielen. Der Anflug hatte uns einen Vorgeschmack auf das Wetter gegeben, das sich seit ein paar Tagen hartnäckig in den Prognosen hielt: gewitterig und windig. Ein erster Platzregen durchnässt uns beim Versuch, die Transportkartons, in denen unsere Bicis gereist sind, zu Antonios Furgone zu bringen. Kurz nach elf Uhr klart der Himmel auf und wir fahren dem Meer entlang in Richtung Palermo. Die erste Panne stellte sich bereits beim Zusammenstellen der Bicis ein – die Schraube zur Befestigung der Sattelstütze hatte sich bei Andy während dem Transport verselbständigt und blieb unauffindbar –, die beiden nächsten (die traditionellen Startplatten) folgen auf den ersten fünf Kilometern. Grosse Pfützen und ein kräftiger Westwind begleiten uns. Letzterer trägt die nächste Niederschlagszelle heran, welche uns nach einer guten halben Stunde Fahrzeit überfällt. Schutz (und Café) finden wir bei der Esso-Tankstelle in Carini. Deren Bastelkiste für Notfälle wird zum Wühltisch für Andys Sattelstützenproblem. Leider ohne Erfolg. Definitive Abhilfe bringt aber der Werkzeug- und Schraubenladen, welcher uns von den sehr hilfsbereiten Benzinai empfohlen wird.
Es klart wieder auf und die Fahrt geht weiter in Richtung Palermo. Die Kanalisation von Palermos Stadtstrand Mondello war dem Regenguss nicht gewachsen. Einige Strassenabschnitte sind immer noch überflutet. Es riecht entsprechend. Die pannen- und wetterbedingten Pausen haben unseren Terminplan durcheinandergebracht. Für die Sightseeing-Tour durch Palermos Altstadt fehlt nun leider die Zeit. Schade, es hätte einiges am Weg gehabt, das einen Kurzabstecher gelohnt hätte. So bleibt uns zumindest die Ehrenmeldung, den Strassenkampf auf der Küstenarena SS113 unbeschadet bestanden zu haben. Mittagessen gibt es in Palermos Fischerhafen Porticello in der Trattoria Arrhais. Wir sind spät dran und bestellen beherzt. Leider versäumen wir es, die Rechnung rechtzeitig zu prüfen. Das Essen war sehr gut, günstig eher weniger…
Die zweite Etappenhälfte absolvieren wir zügig und bei trockenem Wetter. Nach Termini Imerese durchfahren wir die marode Fiat-Industriezone. Die Agnelli-Familie hatte dort anfangs der Siebzigerjahre mit beträchtlicher Staatshilfe eine Produktionsanlage finanzieren lassen, welche in den besten Zeiten über 3000 Leute beschäftigte. Nach dem beständigen Niedergang der italienischen Autoindustrie in den 90er- und 00er-Jahren wurde das Werk Ende 2011 von Sergio Marchionne geschlossen. Der Verkehr auf der Küstenstrasse SS113 bleibt zum Glück weiterhin erträglich. Das Gruppetto zieht sich nun in die Länge. Knapp 120 Kilometer sind für den Giro-Beginn ein bisschen zu ambitioniert. Zur rechten Zeit, sprich vor dem nächsten Regen, erreichen aber alle das B&B Baronetto in Cefalù. 119km – 800Hm

2. Etappe, Dienstag 03.05.16: Cefalù - Milazzo

Die Wetterlage ist weiterhin instabil. In der Nacht hat es kräftig geregnet. Beim Frühstück werden die Informationen aller versammelten Meteo-Apps– deren Anzahl ist im Vergleich zum Vorjahr exponentiell gestiegen – ausgetauscht. An unserem geplanten zweiten Etappenort in Kalabrien haben Unwetter Strassen unpassierbar gemacht. Nach telefonischer Rücksprache mit unserer gebuchten Übernachtung, stellen wir unsere Etappenplanung um und bleiben einen Tag länger auf Sizilien. Wir entscheiden uns – draussen ist es nun ganz real und unvirtuell trocken – die Gunst der Stunde zu nutzen, ab Cefalù auf Zusehen hin loszufahren und in der Gegend von Milazzo eine Übernachtungsmöglichkeit zu suchen. Mit kräftiger Westwindunterstützung rasen wir der Küstenstrasse entlang. Links unter uns spielt sich das aufgepeitschte Mittelmeer als Ozean auf. Nach knapp einer Stunde Fahrzeit wechseln wir – wir trauen dem Wetter noch immer nicht – auf den Zug. Wiederum eine knappe Stunde später steigen wir vorzeitig aus, denn vom angekündigten schlechten Wetter ist noch immer nichts zu sehen. Im Gegenteil: der Himmel wird blauer und blauer und die Sonne lässt ihre Kraft durch die Zugfenster spüren. In Brolo nehmen wir unsere Fahrt auf der SS113 frohgemut wieder auf. Aber bereits nach wenigen Kilometern wird der frühlingshafte Fahrspass auf der Küstenstrasse jäh unterbrochen. Am Ortsausgang von Giojosa Marea ist sie gesperrt. Die Barrieren sind nicht mal zu Fuss zu umgehen. Es muss etwas Ernsthaftes geschehen sein. Wir folgen brav den Umfahrungsschildern und sind zuversichtlich, nach einem kleinen Umweg bald wieder an die Küste zurück zu gelangen. Die Hoffnung zerschlägt sich noch im Dorf, wo uns die erste Rampe mit 15 Steigungsprozenten erwartet. Statt dem Übergang in eine obere Küstenstrasse mit anschliessender Abfahrt werfen sich uns zwei weitere Anstiege mit weit über 20 Steigungsprozenten entgegen. Die Oberschenkel brennen, die Knie drohen auszukugeln, der Puls steigt in den hochroten Bereich, selbst unser Begleitfahrzeug ist hörbar am Kämpfen. Auf 900 Metern Fahrstrecke überwinden wir 135 Höhenmeter, belohnt werden wir mit einem wunderbaren Ausblick über den steilstabfallenden Teil der Nordküste Siziliens. Nach einer kurzen, nicht minder steilen Abfahrt gelangen wir wieder auf die Küstenstrasse zurück, die zur Umrundung des Capo Calavà nun in der Höhe und zum Teil in Tunneln und Galerien verläuft. Tückische Windböen schlagen uns an deren Enden entgegen, treiben uns über die Strasse und fordern unsere Lenkkünste. Für den Blick auf die Liparischen Inseln bleibt währen des Fahrens keine Zeit. Nach dem Mittagessen in Patti folgt der zweite, gemächliche Anstieg zur Schwarzen Madonna von Tindari. Die anschliessende Abfahrt bringt uns in die Ebene von Milazzo und zu unserem Agriturismo Il Gelsomino ritrovato. Total 84km-1200Hm.
24km - 300Hm und 60km - 900Hm

3. Etappe, Mittwoch 04.05.16: Milazzo – Mongiana

Der Morgen beginnt sonnig, die Wetterberichte melden aber weiterhin nichts Verlässliches. Da das schlechte Wetter von Nordwesten heranzieht, beschliessen wir, nach der Überquerung des Strettos an der Südküste Kalabriens Schutz zu suchen. Der erste Teil des Tages führt uns zuerst am östlichsten Teil der sizilianischen Nordküste entlang. Dank der E90, die den motorisierten Verkehr durch einen Tunnel direkt nach Messina schleust, ist der grösste Teil der Strecke erfreulich verkehrsruhig und wir kommen zügig voran. Schneller als wir ist aber die Schlechtwetterfront, die in unserem Rücken heranzieht. Kurz vor Messina erreicht sie uns und es giesst mächtig. Wir finden Schutz in einer Bar mit grossem Vorzelt. Draussen sind die Gullys schon längst überlastet und die Wassermassen wälzen sich über die Strassen dem Meer entgegen. Nach einer knappen Stunde hat uns das Gewitter überholt und der Himmel klart auf. Zwischen unserer geschützten Terrasse und der Strasse fliesst aber weiterhin ein fast meterbreiter Bach. Trockenen Fusses ist dieser nur auf dem Velo zu überqueren. Ein handbreiter, zwei Meter langer Sims ist die einzige Möglichkeit, um aufzusteigen und Schwung für die Überfahrt durch den Bach mit ungewissem Untergrund zu holen. Fast alle haben Glück und kommen trocken an. Einzig Mario hat Pech, stürzt und verstaucht sich einen Daumen kräftig. Wir können nach dem Schrecken und Mario trotz der Schmerzen aber zum Fährhafen weiterfahren. Der Fährhafen? Schön wäre es, wenn es nur einen gäbe und wenn man zum Voraus wüsste, was für eine transporttechnische Herausforderung Fahrräder darstellen! Die Passagierfähre nach Reggio di Calabria fährt ohne uns ab. Wir fahren fluchend zum Autofährhafen zurück, lösen für 1 Bus + 1 Fahrer (das geht zusammen), 7 Passagiere und 7 Bici (je einzeln!) ein Ticket (mit Kreditkarte versteht sich, Bargeld ist viel zu unsicher!) und verpassen ob der Formalitäten fast die nächste Fähre.
Wir haben viel Zeit verloren, die Züge von Reggio fahren nicht im Halbstundentakt und so müssen wir das Mittagessen aus der Auswahl des Fährrestaurants zusammenstellen. Wir haben schon besser gegessen… Die 15 Kilometer nach Reggio gehen auf und bald fahren wir mit der Trenitalia in Richtung Taranto. Es ist aber bereits fünf Uhr, als wir in Marina di Gioiosa aussteigen und den Anstieg in Richtung Mongiana beginnen. Die Arancini di Riso der Fähre liegen schwer auf, ein paar von uns zu schwer. Das Gruppetto zieht sich bedrohlich in die Länge. Wir haben noch nicht mal die Streckenhälfte geschafft, als uns klar wird, das nebst dem Wetter noch andere Umgebungsfaktoren die Rahmenbedingungen der Ausfahrt beeinträchtigen können.
Der Himmel verdunkelt sich merklich, das muss die Dämmerung sein, die sich da ankündigt. Der Besenwagen mahnt zur Eile und sammelt die Nachzügler ein. Um die vorderen im Feld wird es schnell finster und kalt darüber hinaus, denn wir befinden uns mittlerweile auf über 1000 MüM. Kurz vor der Passhöhe ein Licht, ein Haus, wie im Märchen, aber statt der Hexe ein Ristorante am Strassenrand mitten im stockdunklen Wald! Wir wissen um die 15 Kilometer, die noch vor uns liegen, die dürftige Beleuchtung, die wir an unseren Rädern haben, verpflegen uns mit Imbisszeug (der Hunger und die Gerüche aus der Küche führen uns fast zu mehr in Versuchung) und Tee, wärmen uns auf und steigen wieder auf die Sättel. Eine gute Lampe und eine bescheidene leuchten den drei Verbliebenen den Weg. Die Strasse ist von erbärmlicher Qualität: der Belag ist rau und voller Löcher. Vorsichtig tasten wir uns der kurvigen Strasse entlang. Zum Glück regnet es nicht. Wir haben kein Gefühl mehr für die Distanz, die wir bereits zurückgelegt haben, wieviel uns noch bleibt. Wir merken kaum, ob die Strasse steigt oder flach ist. Wenn wir nicht treten und bremsen müssen, geht es wohl abwärts. Es sind keine Baumstämme mehr zu erkennen. Wir scheinen den Wald verlassen zu haben. Lichter werden sichtbar und wir erreichen sie nach unbestimmt langer Fahrt. Dies muss ein Dorf sein. Spärlicher beleuchtet geht kaum. Die Lichter bleiben zurück und wir fahren wieder im Wald. Die Strasse fällt, der Belag wird besser aber die Kurven sind tückisch. Andy verbremst sich und stürzt über den Strassenrand. Zum Glück bleibt auch dieser Unfall ohne ernsthafte Blessuren. Die Strasse geht ins Flache, in die letzte, leichte Steigung über und kurz vor 10 Uhr erreichen wir unseren Übernachtungsort, das Agriturismo Il Casale. Unsere Angst, vielleicht doch ein bisschen spät dran zu sein, ist unbegründet und wir können noch die ganze Palette der kalabrischen Landküche geniessen. Total 135km-1850Hm
63km - 350hm und 15km - 100hm und 44km - 1400hm.

4. Etappe, Donnerstag 05.05.16: Mongiana – Catanzaro Lido

Ausnahmsweise ist es nicht der Wetterbericht, der die Unterhaltung beim Frühstück bestimmt. Der sieht so schlecht nicht aus. Das Höhenprofil der Etappe gibt zu reden. Nach dem langen Schlussaufstieg des Vortages gibt es in der vierten Etappe kurz nach Beginn einen mässig langen, wenig steilen Aufstieg, dann eine Abfahrt von annähernd 40 Kilometern Länge und zum Schluss noch ein Flachstück von 50 Kilometern. Das gefällt allen. Wir starten auf fast 900 MüM, rundum umgeben von bewaldeten Hügelzügen, die Temperatur ist eher frisch. Wenig lässt darauf schliessen, dass wir uns im tiefsten Süden des italienischen Stiefels befinden. Wir rollen nach Mongiana und beginnen die Auffahrt in Richtung Passo di Pietra Spada. Schönster Buchenwald umgibt uns, die Steigung erreicht maximal 5% und die kurvige, fast verkehrsfreie SS110 trägt uns entspannt über die Hügelkette, die uns vom Ionischen Meer trennt. Auf 1350 MüM erreichen wir die Passhöhe und der endlos lange Abfahrtsspass in Richtung Küste beginnt. Wir sind auf der Südseite der Wetterscheide und der Buchwald macht bald Föhrenwäldern, später Macchia-Buschwerk Platz, das die Aussicht über den südlichen, im Sommer gnadenlos der Sonne ausgesetzten Teil des kalabrischen Apennins freigibt. In Stilo machen wir einen kurzen kulturellen Abstecher zur La Cattolica, einer kleinen, fast kubischen byzantinischen Kirche aus dem 11. Jahrhundert. Von dort geht die Abfahrt weiter zur Küste, wo erste, vereinzelte Vorbereitungsarbeiten auf die Sommersaison stattfinden, die meisten Gastronomiebetriebe aber noch geschlossen sind. In Guardavalle Marina finden wir endlich unseren Mittagstisch.
Fünf Minuten nach der Losfahrt lassen unsere Passisti die Zügel ihrer Pferdchen schleifen. Die nächste Stunde legen wir mit Tempi zwischen 35 und 40 km/h zurück. Erst kurz nach Soverata, wo die alte Küstenstrasse SP124 mit Sperrungen und plattenanfälligem Belag aufwartet, werden wir auf unsere bescheidenere Fahrweise zurückgebunden. Wenig später erreichen wir Catanzaro Lido und unsere luxuriöse Bleibe Hotel Palace, die uns zu günstigen Vorsaisonpreisen in den besten Zimmern unterbringt. Dank der rasenden Nachmittagsfahrt können wir die Sicht auf das Meer vor uns von den Balkons unserer Suiten ausgiebig geniessen. 102km - 800hm.

5. Etappe, Freitag 06.05.16: Catanzaro Lido – Lago del Passante

Der Wetterbericht sagt nichts Übles voraus. Einzig am Nachmittag seien lokale Schauer in den Höhenlagen nicht auszuschliessen, heisst es. Die vorgesehene Tour sieht nach gemeinsamer Anfahrt an den unteren Rand der Sila Piccola zwei Varianten vor: die kürzere folgt ab Zagarise der SS109 in Richtung Nordwesten und erreicht die Destination am Lago del Passante via Villaggio Mancuso, für die Liebhaber von Höhenmetern folgt die längere der SS109 nach Osten, biegt kurz vor Sersale auf die SP20 ab und zieht auf dieser eine Schleife durch den Wald der Sila Piccola bis auf knapp 1600 MüM, um von dort zum Lago del Passante zu gelangen. Die ersten gut 15 Kilometer sind topfeben und wir gelangen auf der leider ziemlich verkehrsintensiven E90 zügig nach Marina di Sellia. Dort zweigt unsere Strasse in Richtung Zagarise ab. Nach einem kaum ansteigenden ersten Stück krallt sie sich an einen Geländekamm und folgt diesem auf den nächsten knapp zwanzig Kilometern kurvig und dessen Hügel überkletternd. Wir erreichen Zagarise deutlich vor der Mittagszeit. Die zwei Gruppetti sprechen sich nochmal ab, überprüfen die Routen auf ihren Navis und fahren los. Auf der längeren Variante folgen nach Zagarise knapp 10 Kilometer, auf denen die SS109 nur schwach ansteigt und viel Gelegenheit bietet, das Panorama über den Küstenstreifen und das Ionische Meer zu geniessen.
Nach Sersale kommt für das Gruppetto auf der längeren Variante sehr lange nur noch Wald – sehr schöner Wald, Ristoranti aber keine. Das Ristorante Lo Scacco matto in Sersale war deshalb schon im Voraus gesetzt. Nach ein bisschen durchfragen finden wir es, machen es uns dort gemütlich, lassen uns das Angebot beschreiben und bestellen. Kaum geschehen, wer poltert durch die Türe rein? Das Gruppetto, das sich zu dem Zeitpunkt ca. 20 Kilometer nordwestlich im Aufstieg Richtung Lago del Passante befinden sollte… Sie interpretierten die Farbmarkierung der SS109 auf dem Kartenmaterial des Navis als diejenige der zu folgenden Route, verspürten Hunger und suchten ein Ristorante. Ecco il gruppetto riunito! Bei vorzüglichstem Essen wird das gefeiert. Vollgefüttert werden die Bici wieder bestiegen und es geht ziemlich bald unaufhaltsam bergwärts. Schon nach einer halben Stunde beginnt sich aber auch der Himmel zügig zuzuziehen und zu verdunkeln. Das sieht nicht vertrauenserweckend aus. Das Feld hat sich, geschwächt durch die Völlerei am Mittagstisch, wieder in die Länge gezogen, als der Regen einsetzt. Die Spitze des Feldes hat mittlerweile eine Höhe von knapp 1500 MüM erreicht, es wird nicht nur nass, sondern auch empfindlich kühler. Willi, der Bräunung des Teints verschrieben, friert und flucht. Antonio, mit seinen Kleidern im Furgone, befindet sich aber, dem Befehl seines Meisters Mario gehorchend, weiter hinten im Feld. Telefonini werden gezückt, Hilferufe werden gestartet – und mit Glück auch beantwortet. Die Informationslogistik unseres Giros hat noch nicht die Qualität derjenigen des grossen Bruders erreicht, stellen wir fest. Auch die textile Ausrüstung entspricht nicht bei allen Corridori den Anforderungen der nun bereits ziemlich widrigen Witterung. Fehlende Regenhosen und Schuhschütze werden beklagt und überhaupt wurde bei der Auswahl der Giro-Destination versichert, in Italiens Süden sei es im Frühjahr schön und warm. Rettende, trockene Unterstände hat es keine, warme ohnehin nicht. Der fallende Regen war kurz zuvor noch Schnee. Es ist kalt. Der Meo-Tross ist kleine Gruppetti zerfallen. Jeder für sich mit Nässe, Kälte und beschlagenen Brillen kämpfend überqueren wir den Kulminationspunkt, stürzen uns mit klammen Fingern und gezogenen Bremsen in die Abfahrt. Endlich erreichen wir die Abzweigung, wo unser Etappenziel, das Agriturismo Lago del Passante, angeschrieben ist. 4 Kilometer später sind wir dort und werden erwartet. Der grosse Kamin ist eingefeuert, wir sind gerettet! Nach und nach treffen die letzten Kämpfer ein. Vor Nässe triefend, frierend und kaum fähig einen zusammenhängenden Satz auszusprechen, versammeln sie sich im Halbkreis vor dem offenen Feuer. Der Capitano hat zur Stärkung der Moral bereits während des Aufstiegs Otto Ernsts Ballade «Nis Randers» rezitiert. Im Nachspann zum Giro wird er mit seiner Nostroma zu dieser denkwürdigen Etappe eine auf die Geretteten des Meo-Giros 2016 transkribierte Fassung erstellen. 84km - 2000hm.

6. Etappe, Samstag 07.05.16: Lago del Passante – Soveria Manelli

Nach der unvergesslichen Vortagesetappe und mit den nicht bei allen trocken gewordenen Klamotten steht bei einem Grossteil des Gruppettos der Sinn nicht nach weiteren Abenteuern. Das Wetter präsentiert sich zwar gut, die Sila lockt mit ihren endlosen Wäldern, fast verkehrsfreien Strassen, schönen, an Skandinavien erinnernden Acker-, Weideflächen und Seen, demgegenüber geizt aber auch die Aussicht auf das Endziel der Etappe, das Agriturismo La Rosa nel Bicchiere. (eines der gehobenen Klasse…) nicht mit Reizen.
Die ersten 10 Kilometer entsprechen den letzten des Vortages, wir steigen also trocken (oder zumindest trockener) und warm auf, wo wir durchnässt und frierend abgefahren sind und bekommen so nochmal die Gelegenheit, uns an der Gegend und den Gerüchen des Waldes zu freuen. Nach einer ersten Abfahrt teilen sich die Wege an der Einbiegung in die SP179. Die Unverzagten, die die Sila-Schleifen nicht missen möchten, biegen gegen Osten ab und diejenigen, die den Tag ruhiger angehen wollen, nach Westen. Nach den Anbaugebieten (wir befinden sich uns auf gut 1300 MüM) der berühmten Patata della Sila folgen wir auf der Sila-Schleife während 10 Kilometern dem Lago Ampollino, biegen an dessen Ostende auf die SP35 ab, überqueren eine Hügelkette und folgen dieser auf deren Nordseite auf der kaum befahrenen SS108/bis in Richtung Lorica am Lago Arvo. Der überwiegende Teil der Strecke verläuft im Wald. Kilometer um Kilometer durchfahren wir stämmige Tannenwälder, welche man, müsste man raten, im nördlichen Mitteleuropa, vielleicht sogar Südskandinavien vermuten würde. Lorica, wo wir die Mittagspause einlegen, ist im Winter (kein Witz!) denn auch ein Zentrum für alpine und nordische Sportarten, im Sommer für Kühle Suchende aus den heissen, nur gut 40 Kilometern entfernten Orten am Fuss der Sila, am Ionischen oder Tyrrhenischen Meer.
Im Gegensatz zum Vortag bleibt das Wetter heute frühlingshaft gut, wir geniessen das sehr. Nach dem Mittagessen rollen wir weiter dem Lago Arvo entlang, überqueren die Hügelkette ein zweites Mal und kommen nach knapp 80 Kilometern auf die Strecke, die auch von der kürzeren Tagesvariante befahren wurde. Wenig später verlassen wir das Hochplateau der Sila und gelangen nach einer rasanten Waldabfahrt in eines der Täler, die die Sila in Richtung Süden entwässern. Nach einem teilweise ruppigen Gegenaufstieg auf der SP69 bleiben wir auf dem Hügelrücken und erreichen nach weiteren fünf Kilometern gemütlich abfallender Strasse Soveria Manelli und wenig ausserhalb, wunderschön auf einem kleinen Hügel gelegen, unser Agriturismo La Rosa nel Bicchiere. Unsere Freunde sind schon länger da und lümmeln wie eine Herde von sonnenbadenden Walrössern in den Liegestühlen am Swimmingpool. Nach dem Kampf am Vortag ist die Begeisterung all der vielen, schönen Annehmlichkeiten gross. Auch beim Nachtessen werden wir nicht enttäuscht: wir sind die einzigen Gäste und werden köstlich bewirtet. 104km – 1350Hm.

7. Etappe, Sonntag 08.05.16: Soveria Manelli – Lamezia Terme

Beeilen müssen wir uns auf unserer letzten Etappe des Giro 2016 nicht. Der Edelweiss-Flug startet in Lamezia erst am Abend und unser Weg dorthin ist nicht weit. Auf den ersten gut 10 Kilometern folgen wir dem Talverlauf, zuerst auf Nebenstrassen, später auf der SP19 in Richtung Catanzaro. Wir befinden uns immer noch auf über 700 MüM, das Wetter ist gut, die Kraft der Sonne morgens aber erst mässig und entsprechend frisch die Temperaturen. Wir biegen rechts auf die SP77 ab und beginnen mit dem letzten längeren Aufstieg. Der Hang ist schattig und waldig. Das Dorf Serrastretta in der Mitte des Aufstiegs kann die Spuren des Bevölkerungsverlusts der letzten Jahrzehnte nur schwer verbergen. Arbeit gibt es hier schon lange keine mehr. Ausser in den Sommermonaten, wenn sich ein paar Nachfahren als Sommerfrischler dahin verirren, ist wenig los. Die Konstante eines noch lebenden italienischen Dorfes, die Bar, gibt es aber noch, und so ist auch unser Morgen-Café gesichert. Auf 1050 MüM überqueren wir den Hügelkamm. Weit unter uns liegen Lamezia und die Ebene bis hin zum Meer. Die nächsten sieben Kilometer sind Abfahrtsspass pur: perfektes Gefälle der kurvigen SP77 entlang des waldigen Hangs, kaum Verkehr und überraschend guter Belag. Auf halber Höhe zwei Kilometer Panoramafahrt durch die ersten Häuser und Dörfer, dann Fortsetzung des Abfahrtsgenusses: 400 Höhenmeter gleichmässig verteilt auf den nächsten neun Kilometern bis eingangs Lamezia.
Auch Lamezia hat seine guten Zeiten hinter sich. Das alte Stadtzentrum ist mit Mühe noch auszumachen; Zentrum der Stadt ist es aber schon lange nicht mehr – und ein neues ist nicht zu erkennen. Bei der Suche nach einem Ristorante scheitern wir kläglich. Nach drei Runden im alten Stadtteil fahren wir zum Bahnhof an dessen unterem Rand. Dort gibt es tatsächlich eine sterile, wenig einladende Pizzeria. Wir fragen uns weiter durch und werden dann doch noch fündig: im ausfransenden neuen, unteren Teil der Stadt, in der Pizzeria «Il Bonsai» geniessen wir das letzte Mittagessen unseres Giro 2016. Zum Flughafen ist es nicht mehr weit. Knapp 15 Kilometer später kommen wir dort frühzeitig an und werden ganz in Rosa empfangen. Der Flughafen hat sich zum Empfang des Giro-Trosses, welcher nach den drei Startetappen in Holland am nächsten Tag hier eintreffen wird, herausgeputzt. Wie er die x-hundert Bici entgegennehmen wird, ist uns schleierhaft: der Bogen des Scanners durch dem die sie geschoben werden müssen, ist zu klein. Die Offiziere diskutieren, telefonieren, da muss Chef der her. Der eintreffende Sovrintendente verordnet eine Stichprobe an einem Karton. Einen Spalt weit öffnen, ein geübter, erfahrener Röntgenblick des Sovrintendente und die versammelte Sicherheitsbrigade des Flughafens zieht sich zurück und wir können unsere Heimreise antreten. 57km - 650hm.

Verfasser: Urs Christen 2017